03 lipca 2016

SPIEGEL-Brief


Liebe Leserin, lieber Leser!
An einem Abend Ende Januar wurde Selim Gören, die 24-jährige Bundessprecherin der Linksjugend, auf einem Spielplatz in Mannheim von drei arabisch aussehenden Männern vergewaltigt. Bis zu diesem Überfall, schreibt meine Kollegin Laura Backes, war Görens Weltbild klar und geordnet: "Flüchtlinge und Ausländer: gut. Die deutsche Gesellschaft: böse, weil rassistisch. Die Lösung, ihrer Meinung nach: Sozialismus." Nur wenige Stunden zuvor hatte Gören bei einer Kundgebung zum Kampf gegen Rassismus und Sexismus aufgerufen. Nun rannte sie durch einen menschenleeren Park. Der Polizei sagte sie, sie sei bestohlen worden, die Täter hätten deutsch gesprochen. Backes hat die Nachwuchspolitikerin in Mannheim besucht, sie wollte verstehen, warum Gören die Polizei belogen hat - und ob sich ihr Weltbild durch die Gewalttat verändert hat. Eine überraschende, überraschend ehrliche Geschichte, in der nichts einfach ist.
Gehören Sie zu den Menschen, die manchmal mehr Zeit mit ihrem Smartphone verbringen als mit der Familie oder mit Freunden? Oder die zumindest das Gefühl haben, dass da etwas aus dem Gleichgewicht geraten könnte? Dann empfehle ich Ihnen den Text meiner Kollegin Laura Höflinger aus dem Wissenschaftsressort. Sie ist der Frage nachgegangen, ob die Digitalisierung des Lebens uns einsam macht: "Abends allein auf dem Sofa statt im Gespräch in der Kneipe, mit Menschen aus Fleisch und Blut, die dir gegenübersitzen, die du anfassen, anlächeln oder auch mal anschreien kannst. Muss das nicht böse enden?" Das Ergebnis ihrer Recherchen sei an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel: Früher war nicht alles besser.
Über den Brexit, das beherrschende Thema auch dieser Woche, schreibt mein Kollege Romain Leick: "Es ist ein angekündigter Rückzug aus dem Allgemeinen auf die Beschränktheit des Selbst, eine Hommage an die eigene Identität, deren chauvinistische Verherrlichung in Europa eigentlich nur noch in sportlichen Wettkämpfen als schicklich toleriert wird." Was bleibt, sind Verunsicherung, Ratlosigkeit und - vonseiten der "Berufseuropäer, dieser Messdiener einer sakralisierten Idee" - Beschimpfungen und Drohungen in Richtung England. Leicks Debattenbeitrag möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen, weil er sich wohltuend abhebt von der allgemeinen Aufgeregtheit dieser Tage. In ruhigem Ton stellt er entscheidende Fragen: Was bedeuten das Votum der Briten und die Schlüsse, die Populisten anderer Länder nun daraus ziehen, für das Verhältnis von Volk und politischer Führung? Was wird, in Zeiten des Populismus, aus der gut meinenden Demokratie?
Eine überaus charmante "Hommage an die eigene Identität" finde ich, was die Isländer am vergangenen Montag in Nizza vorgeführt haben. Ich war noch nie in Island, ich kenne auch keinen der insgesamt 330.000 Isländer, von denen sich derzeit rund jeder Zehnte in Frankreich aufhalten soll - doch die Mannschaft um den vollbärtigen, tätowierten Kapitän Aron Gunnarsson ist für mich spätestens nach ihrem 2:1-Sieg über die Engländer das Ereignis dieser Europameisterschaft. In ihrer Geschichte mit der treffenden Überschrift "Hu! Hu!" analysieren Hendrik Buchheister, Detlef Hacke und Juan Moreno, wie den isländischen Fußballern, kraftvoll unterstützt von ihren Fans und dem kultverdächtig kreischenden TV-Kommentator Gudmundur Benediktsson, die Sensation gelingen konnte. Wenn der Gastgeber Frankreich am Sonntag auf den Außenseiter trifft, könnte er, so die Kollegen, "mehr verlieren als ein Spiel". Island aber kann höchstens ausscheiden - oder die schönste Geschichte dieser EM fortschreiben.
Eine interessante SPIEGEL-Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Samiha Shafy
SPIEGEL-Redakteurin


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