Sehr geehrter Herr Pascal Alter!
In den vergangenen Monaten haben wir SPIEGEL-Redakteure immer wieder und aus unterschiedlichen Blickwinkeln über das Flüchtlingsthema berichtet - auch ich war dafür unterwegs. Nun empfehle ich Ihnen besonders den Bericht des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani, der übrigens in diesem Monat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird. Er ist für den SPIEGEL die Balkanroute der Flüchtlinge rückwärts gereist. Aus einem "weich gewordenen" Deutschland, das die Fremden aufnimmt und willkommen heißt, fuhr er über Budapest und Lesbos bis nach Assos in der Türkei. Er schaute sich bei den freiwilligen Helfern um, begegnete Afghanen vom Land, die mittellos festsitzen und bereuen, ihre Heimat jemals verlassen zu haben, ebenso wie jungen Syrern der Mittelschicht, die es wohl rasch nach Deutschland schaffen werden. Er schreibt von einem kleinen Mädchen, das "dem Polizisten so zärtlich über die blaue Uniform" streicht, dass dem Mann die Tränen kommen. Kermani stellt allerdings auch eine Frage, die vielleicht viele Menschen bewegt, die sich aber beinahe verbietet: "Warum kommt ihr denn alle?", fragt er die Alten, die Frauen, die Kinder.
Während meines Studiums habe ich mich oft - und gern - mit dem Werk Thomas Manns auseinandergesetzt. Darum ist der Text meines Kollegen Volker Weidermann für mich besonders interessant: Er erzählt die Saga dieser "dysfunktionalen, scheiternden Familie". 60 Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers und 13 Jahre nachdem sein letztes Kind gestorben ist, sind die Mitglieder des Klans noch allgegenwärtig durch Romane, Briefe und Tagebücher. Thomas Mann hatte sich eine Art Liebesverbot auferlegt - "um so zum wahren Künstlertum fähig zu sein". Es überrascht nicht, dass viele Familienmitglieder geradezu besessen waren von dem Drang, alles, auch ihre intimsten Neigungen und Aversionen, aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Weidermann zeichnet den modernen Zug der Manns nach, sodass sich die von Mutter Katia regierte Sippe als Projektion für die Deutschen von heute eignet - mit der Sucht nach Facebook-Entblößung und Selfies.
Von den skurrilen Sitten der britischen Elite erzählt höchst amüsant die Geschichte meines Ressortkollegen Christoph Scheuermann. Viele heutige Spitzen der Londoner Gesellschaft, darunter Bürgermeister und Premierminister, gehörten als Studenten dem Bullingdon Club von Oxford an. Dort knüpften sie das Old Boy Network, das die Tories zusammenhält. Die heftig über die Stränge schlagende Oberschichtjugend wird im Vereinigten Königreich seit Jahrhunderten mit Teilhabe an der Macht belohnt.
Viel Spaß bei der SPIEGEL-Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Helene Zuber
SPIEGEL-Redakteurin
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